Schon vor der “Corona-Krise” gab es in der Modebranche die Sehnsucht nach einem Paradigmenwechsel. Zu viele Kollektionen und zu schnelle Trendzyklen führten nicht nur zu dem Gefühl, dass die komplette Branche kurz vor dem Burnout stand, sondern vor allem zu sehr viel Müll und einem hohen Energieverbrauch. Zu Recht stand und steht die Modeindustrie als dritt größter Umwelt- verschmutzer in der Kritik und immer mehr Konsumenten fordern mehr Transparenz zu Herstellungsverfahren, Materialien und Lieferketten.
Die “Corona-Krise” fühlt sich diesbezüglich fast wie eine Notbremse an, sie bringt Vieles plötzlich zum Stillstand und zwingt uns zum Innehalten. Was werden wir aus dieser Zeit mitnehmen? Wie wird sich langfristig unser Konsumverhalten und damit die Herausforderungen für die Modeunternehmen verändern?
Das Jahr 2020 wird uns als eines voller Unsicherheit in Erinnerung bleiben. Die unsichtbare Gefahr eines Virus sorgt für einen angeordneten Rückzug ins Häusliche. Damit einhergehend ist eine Renaissance konservativer Werte zu beobachten: Die eigenen vier Wände werden zum Refugium vor der bösen weiten Welt. Auf Instagram wird plötzlich gebacken, gekocht, gegärtnert, gestrickt und der gute alte Buchclub wird in digitaler Form wiederbelebt. Mit Bananenbrot und DIY-Schmuck wird der Langeweile, der Schnelllebigkeit, der Online-Präsenz und dem Leistungsdruck entgegengewirkt.
Plötzlich verbringen wir sehr viel Zeit mit uns und unserem eigenen Besitz. Dabei kommen wir kaum um eine modische Bestandsaufnahme herum. In meinem Freundeskreis konnte ich beobachten, wie sich viele von ihrem eigenen Materialismus erschlagen fühlten und anfingen auszumisten, zu ordnen und zu reparieren. Reduktion auf das Wesentliche – Übersichtlichkeit und Ordnung als Ausgleich zum politischen und ökonomischen Chaos vor der Haustür. Schon in den letzten Jahren gab es diese Tendenz zum überlegten und bewussten Konsum: Minimalismus trifft Lieblingsteile. Anstatt “Fast-Fashion-Trends” mit schnellem Ablaufdatum zu folgen, wird eine “Capsule Wardrobe” mit zeit- und saisonlosen, qualitativen Pieces zum neuen Ideal.
Statt zu billig produzierten Fast Fashion Teilen, greifen wir lieber zu hochwertigen Materialien und klassischen Designs. Der Mega-Trend Naturmaterialen wird nicht nur in unseren Kleiderschränken durch Leinenhosen und Bio-Baumwolle offensichtlich, sondern zeigt sich auch in unserer neuentdeckten Interior-Liebe für Bast und Bambus.
Wer ein Bewusstsein für Nachhaltigkeit entwickelt hat, aber nicht in Design-Klassiker investieren kann, der greift auf Second Hand und Vintage Mode zurück. Aktuell liegt der Second Hand Markt weltweit bei etwa 28 Milliarden Dollar, für das Jahr 2023 wird er auf satte 51 Milliarden Dollar geschätzt. Glauben wir den Prognosen für die nächsten zehn Jahre, dann wird der Second Hand-Markt den Retail-Markt überholen: Geschätzt wird ersteres auf 64 Milliarden und letzterer auf nur 44 Milliarden Dollar im Jahr 2030.
Spannende Ladenkonzepte wie LNFA im Bikini Berlin, die unteranderem Vintage Mode neben lokalen Designern verkaufen, werden so immer attraktiver für Menschen. Bei Stores wie IND Berlin und Labo.Art wird auf hochwertige Materialien und starke Designs gesetzt, was sie daher langlebiger macht, als viele andere Fast Fashion Labels.
Obwohl viele Menschen durch die “Corona-Krise” finanzielle Einbüßen spüren oder zumindest fürchten und sich deshalb vermehrt auf essentielle Produkte und langfristige Investitionen fokussieren, gibt es trotzdem das Bedürfnis inspiriert zu werden. Die McKinsey Global Fashion Survey sagt ein nur leicht fallendes Wachstum von 4,5% 2019 auf 3,5% 2020 für den globalen Modemarkt voraus. Gerade weil viele Unterhaltungs-Aktivitäten abgesagt oder verboten wurden, ist die Mode im Alltag zu Hause weiterhin eine der wenigen Inspirationsquellen und “Mood-Changer” die noch bleiben. Mode ist für bestimmte affine Konsumentengruppen eine Ausdrucksform der Individualität, die in der Krise besonders wichtig wird, um sich, während äußerer Veränderungen, weiter gut und sich selbst zu fühlen. Diejenigen die es sich leisten können, werden weiter shoppen, doch wo und was?
Für 2020 identifiziert die MC Kinsey Global Fashion Survey 2020 die Schlagwörter “Sustainability first”, “In the Neighbourhood” und “Next Gen Social” als wichtigste Werteverschiebungen des Jahres.
Obwohl der Online-Handel von den vorübergehenden Laden-Schließungen der nächsten Wochen profitiert hat, shoppen wir alle Mode lieber immer noch in physischen Läden. 70% der Konsumenten bevorzugen das offline Shoppingerlebnis und finden es praktischer Mode zum Anfassen zu haben und, wie zum Beispiel im Bikini Berlin ausgewählte, spannende Marken entdecken zu können. Durch die Kontaktbeschränkungen sind wir alle plötzlich viel mehr in unserer eigenen Nachbarschaft unterwegs: Bei unseren Spaziergängen werden wir auf lokale Geschäfte aufmerksam, die wir unterstützen wollen, die unsere Unterstützung brauchen. Wir und unsere Kaufentscheidungen tragen dazu bei, welche Läden weiterhin bestehen werden und wie unsere Nachbarschaft aussieht. Dieses Bewusstsein habe ich erst wirklich seit Corona entwickelt.
Corona kann und wird ein Katalysator sein – für bereits vorhandene Tendenzen und Kaufentscheidungsfaktoren wie Lokalität, Transparenz und Nachhaltigkeit. Durch die geschenkte Zeit konnten viele ihr Handeln und ihren Konsum bedenken und haben Nachbarschaft und Natur als essentielle Wohlfühlfaktoren in ihrem Leben identifizieren können.
Die Wichtigkeit eines gemeinsamen Handelns gegen eine Gefahr von Außen wurde uns allen bewusst gemacht. Unser Handeln zählt. Jede einzelne, individuelle Entscheidung kann zu einer Katastrophe oder einem glimpflichen Ausgang führen. Es wäre wünschenswert, wenn diese Erkenntnisse auch langfristig in der Art und Weise wie wir Mode konsumieren, sichtbar werden. Wie schön, dass bei Insititutioen wie BIKINI BERLIN unsere Wünsche erhört werden.